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Ehrenfeld, der Stadtteil vom Reißbrett


Die Entwicklung Bochums von einem kleinen, ländlich geprägten Städtchen zur Großstadt war eng mit der rasanten Expansion der Montanindustrie seit Mitte des 19. Jahrhunderts verbunden. Als Anfang der 1840er-Jahre mit der Firma Meyer & Kühne, der Vorläufergesellschaft des Bochumer Vereins, und der Zeche Vereinigte Präsident die ersten Unternehmen der Branche vor den Toren der Stadt gegründet wurden, besaß Bochum gerade 4.000 Einwohner. Das Stadtgebiet hatte sich noch nicht über den seit der frühen Neuzeit besiedelten Raum innerhalb der alten Stadtbefestigung ausgedehnt. Dies änderte sich jedoch bald. Mit der Nordwanderung des Ruhrbergbaus entstanden rasch neue Zechen. Es folgten die Eisen- und Stahlindustrie, weiterverarbeitende und zuliefernde Branchen. Der große Arbeitskräftebedarf der jungen Industrie lockte zahlreiche Einwanderer ins Ruhrgebiet. In der Nähe der Betriebe entstanden Siedlungen und die bestehenden Ortsstrukturen verdichteten sich.

Bochums Einwohnerzahl überschritt vor diesem Hintergrund Anfang der 1860er-Jahre die Grenze von 10.000 und erreichte 10 Jahre später bereits 20.000. Bis 1885 stieg sie auf 41.000 und bis zur Jahrhundertwende auf fast 70.000. Ausschlaggebend für diese Entwicklung war neben der Industrie auch Bochums Rolle als Verwaltungszentrum. Seit 1817 gehörte Bochum als Kreisstadt zum gleichnamigen Landkreis, der auch Teile der heutigen Gebiete von Hattingen und Witten, von Gelsenkirchen und Herne umfasste. 1876 wurde Bochum dann kreisfreie Stadt, während alle benachbarten Gemeinden im Landkreis verblieben. Nun platzte die Stadt im wahrsten Sinne des Wortes aus allen Nähten. Obwohl die Bebauung in den letzten drei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts zahlreiche Freiflächen erobert hatte, blieb Wohnraum ein extrem knappes und dadurch teures Gut. Abhilfe von dieser Problematik, die alle Ruhrgebietsstädte betraf, bot die Gebietsreform, in deren Rahmen 1904 die angrenzenden Stadtteile Grumme, Hamme, Hofstede und Wiemelhausen eingemeindet wurden. Mit nun über 112.000 Einwohnern und einem bedeutenden Flächenzuwachs wurde Bochum endgültig zur Großstadt.

Bereits 1898 hatte der Bauunternehmer Clemens Erlemann (1865-1937) die durch Bevölkerungswachstum und Raummangel notwendig gewordene Erweiterung des Stadtgebietes vorausgesehen. Es war ihm auch klar, dass eine Ausdehnung konsequenterweise in südlicher Richtung erfolgen würde, denn kurz hinter der Stadtgrenze lag schon in Wiemelhausen der damalige Bochumer Hauptbahnhof an der Bergisch-Märkischen Eisenbahn, und dahinter befand sich eine weitgehend unerschlossene Wald- und Wiesenlandschaft mit nur einigen Häusern: das Ehrenfeld. Vollständig zu Wiemelhausen gehörig, wurde die Gegend noch bis Anfang der 1870er-Jahre vom Volksmund als „kleine Tocke“ bezeichnet. Im März 1874 vereinbarten die Anwohner jedoch als Reminiszenz an den siegreichen deutsch-französischen Krieg 1870/71 die Umbenennung in „Ehrenfeld“ und schufen damit eine einprägsame Bezeichnung für die Region, die zwar niemals den Rang eines Stadtteils erhielt, aber nach Erlemanns Plänen bald zu einem beliebten Wohngebiet avancierte. Vor diesem Hintergrund ist auch eine klare Abgrenzung des Ehrenfeldes innerhalb Wiemelhausens nicht möglich. Es ist eine Frage des Zugehörigkeitsgefühls: Man wohnt nicht in Ehrenfeld, sondern im Ehrenfeld.

Das gesamte Gebiet gehörte zum Haus Rechen, dessen Eigentümer Otto von Schell zunächst nicht an einen Verkauf dachte und dann einen für Erlemann nicht akzeptablen Kaufpreis forderte. Nach längeren Verhandlungen fand er sich jedoch 1898 bereit, seine Vorstellungen zu reduzieren, und überließ Erlemann Grundstücke zwischen Ottostraße [heute Oskar-Hoffmann-Straße] und Bahnlinie. Außerdem räumte er ihm das Vorkaufsrecht auf seine gesamten Liegenschaften ein. Zur Jahrhundertwende entstanden die ersten Bauten des neuen Stadtteils am Westfalenplatz. Erlemann hatte zahlreiche Parzellen an private Bauherren veräußert und die Flächen für den Platz und die Straßen der Stadt weitgehend unentgeltlich abgetreten.

Nach dem Tod von Otto von Schell begann Erlemann 1903 mit den ersten Planungen für eine Bebauung der 380 Morgen großen restlichen Flächen des Hauses Rechen, die er Anfang 1904 von Ottos Erben Carl von Schell erwarb. Schon die ersten Entwürfe zeigten ein in Nord-Süd-Richtung verlaufendes Rechteck in den Grenzen (heutiger Verlauf) Hattinger Straße/Oskar-Hoffmann-Straße, Knüwerweg, Waldring und Hunscheidtstraße, welches durch die Königsallee in zwei Hälften geteilt wurde. Die Straßenzüge wurden mit Ausnahme des Romanusplatzes rechtwinkelig zueinander angeordnet, während im Süden der Wald bestehen blieb. Nach Vorbild bürgerlicher Stadtteile anderer Städte und in Abgrenzung zu Arbeitersiedlungen wie Stahlhausen wollte Erlemann Wohnraum für Angestellte, Beamte und höhere Bevölkerungsschichten schaffen.

Die Gemeinde Wiemelhausen unterstützte seine Bemühungen, obwohl sie selbst nicht einmal annähernd dazu in der Lage war, die hohen Investitionen für die Anlegung von Straßen und sonstiger Infrastruktur aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Allerdings war schon Anfang März 1903 die Eingemeindung von Wiemelhausen nach Bochum zum 1. April 1904 beschlossen worden. Der Gemeinderat konnte also ohne Rücksicht auf die Kosten einen Bebauungsplan für das Ehrenfeld verabschieden und der Stadt Bochum per Eingemeindungsvertrag die Finanzierung aufbürden.

Bereits um die Jahreswende 1904/05 begann man mit den Erschließungsarbeiten für den ersten Teilabschnitt der Königsallee bis zur Farnstraße und der anliegenden Straßen sowie dem Bau erster Wohnhäuser. Um die Entwicklung voranzutreiben, überließ Erlemann der katholischen und der evangelischen Kirche kostenlos Grundstücke mit der Auflage, sie umgehend zu bebauen. Von weitaus größerer Bedeutung war jedoch der Bau des Verwaltungsgebäudes des Allgemeinen Knappschaftsvereins, der ebenfalls ein kostenloses Grundstück und zudem von Erlemann eine Ausgleichszahlung für das ehemalige Knappschaftsgebäude in der Innenstadt Bochums erhalten hatte. Außerdem errichtete er 1907 auf eigene Kosten das „Orpheum“ als Varieté- und „Schaustellungstheater“.

Der hohe Aufwand lohnte sich, denn die hervorragende Perspektive des neuen Stadtteils lockte schnell weitere Investoren, die die angebotenen Parzellen erwarben. Auf der anderen Seite war Erlemann auf einen stetigen Zufluss von Mitteln angewiesen, denn er hatte sich bereits beim Kauf der Liegenschaften des Hauses Rechen bei den ortsansässigen Banken hoch verschuldet. Dass seine Baugesellschaft auf tönernen Füßen stand, zeigte sich, als das im Herbst 1908 nach gut einjähriger Bauzeit für 900.000 M errichtete Theater sich aufgrund seines verfehlten Konzepts bereits nach kurzem Betrieb als unrentabel erwies. Den Umbau des Gebäudes zu einer Schauspielbühne konnte Erlemann finanziell nicht mehr verkraften – er musste Konkurs anmelden, und die Stadt Bochum übernahm das Theater.

Noch vor dem Ersten Weltkrieg war der Bebauungsplan abgeschlossen. Während im Norden Verwaltungs- und Mietshausbebauung dominierten, befand sich im Südteil aufgelockerte Wohnbebauung mit Bürgerhäusern wie der im Jugendstil erbauten Villa des Wagen- und Automobilfabrikanten Lueg, sowie dem Realgymnasium (heute Graf-Engelbert-Schule und der Drusenbergschule. Ergänzt wurde das Stadtbild bis 1933 durch die „Lichtburg“ (1929-1933), einem der modernsten deutschen Kinos an der Ecke Königsallee/Hattinger Straße und das Parkhotel Haus Rechen (1927-1930), dem renommiertesten Hotel des Ruhrgebietes an der Königsallee/Christstraße. Beide Gebäude waren von Emil Fahrenkamp errichtet und trugen zum modernen Gesamteindruck des neuen Stadtteils bei.

Während des großen Bombenangriffs auf Bochum am 4. November 1944 wurde ein Großteil des Ehrenfeldes vernichtet. Zwar änderte sich durch die Zerstörung fast aller öffentlichen Gebäude und den Wiederaufbau das Bild des Stadtteils, doch ging der ursprüngliche Charakter durch die weitgehende Beibehaltung der Straßenführung nicht verloren.


Dietmar Bleidick




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